AG  Prof. Dr. Frank-Olaf Schreyer

 

Studienführer Mathematik der Universität Bayreuth
Next: Zusammenfassung Up:  Fragen  Previous:Wo studiert man Mathematik? 

Was ist Mathematik?

Diese letzte und schwierigste Frage in diesem Aufsatz wird verblüffenderweise auch von Mathematikern selten gestellt. Anscheinend gibt es in der Bevölkerung eine recht präzise Vorstellung davon, was Mathematik ist, und das ganz unabhängig vom Bildungsstand ([13], [15]), [19], [20]). Vielleicht spielt dabei folgendes eine Rolle: Mathematische Erkenntnisse wirken sehr endgültig. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, wo Resultate gelegentlich später korrigiert oder nur als Approximation der Wahrheit erkannt werden, bleiben mathematische Theoreme für alle Zeiten wahr. Allerdings lassen sich die Grundlagen der mathematischen Sätze in einer dem Laien unvorstellbaren Weise noch hinterfragen. (Die daraus resultierende wesentlich andere Einstellung zur Wahrheit als sie etwa Juristen haben macht Mathematiker auch für die Zusammenarbeit mit diesen interessant.)

Die heutzutage an den Gymnasien gelehrte Differential- und Integralrechnung wird seit den 20er Jahren an unseren Höheren Schulen unterrichtet und wurde im wesentlichen schon im 17./18. Jahrhundert entwickelt. Daraus darf man nicht schließen, daß in der Mathematik schon seit langem nichts mehr passiert ist. Die Mathematik des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich von der Mathematik des 17./18. Jahrhunderts genauso wie die Medizin dieser Epochen. Differential- und Integralrechnung wird an den Schulen gelehrt, weil sie Grundlage sämtlicher Natur- und Ingenieurwissenschaften ist und zum Verständnis vieler anderer Wissenschaften benötigt wird.

Um sich vorzustellen, wie es mit der Mathematik weitergegangen ist oder weitergeht, braucht man sehr viel Phantasie, letztlich die Kreativität von Mathematikern. Dies und die Endgültigkeit der Ergebnisse ist vielleicht der Grund dafür, daß viele fälschlich zu wissen glauben, was Mathematik ist.

Ein zweiter Grund dafür, warum in der Bevölkerung nahezu gar nichts über aktuelle Entwicklungen der Mathematik bekannt ist, liegt daran, daß es uns schwerfällt, unsere Ergebnisse vorzuzeigen. Mathematiker haben im Gegensatz zu Physikern eben keine eindrucksvollen Laboratorien. Hat ein mathematisches Ergebnis eine unmittelbare Anwendung, so sind daran auch immer andere Wissenschaften beteiligt, die mit Recht diese Erfolge auch für sich beanspruchen. Unsere abstrakten Ideen können wir Ihnen bestenfalls mit etwas Computergraphik schmackhaft machen. Die eigentliche Mathematik spielt sich fast ausschließlich in unseren Köpfen ab. Um Ihnen dies adäquat zu zeigen, müssen Sie uns schon etwas mehr Zeit lassen als wenige Stunden. Sicherlich sind fünf Wochen nicht ausreichend, um die Mathematik des 20. Jahrhunderts auch nur grob darzustellen. Eher sind fünf Monate erforderlich. Am besten, Sie geben uns 5 Jahre ([14]).

Dennoch, lassen Sie mich versuchen, einige exemplarische Ergebnisse und Entwicklungen der Mathematik in jüngster Zeit aufzuzeigen.

In der diskreten Optimierung sind durch die leistungsfähigen Computer und durch die Verbesserung der Algorithmen Anwendungen möglich geworden, von denen man noch vor wenigen Jahren nur träumen konnte. Einen hervorragenden Eindruck dieser Entwicklung mit Anwendungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Regelung von Bus- und U-Bahnverkehr (Hamburg, Berlin), Steuerung von Kraftwerken und Telekommunikationssystemen oder Betriebsoptimierung liefert das Video des Konrad-Zuse-Zentrums Berlin ([31]). Martin Grötschel, der für seine Arbeiten mit dem Leibniz-Preis der DFG ausgezeichnet wurde ([34]), sagt ([31]): ''Diskrete Optimierung ist überall dort wichtig, wo knappe Ressourcen kostengünstig und effizient eingesetzt werden müssen.''

Da Nobel keinen Preis für Mathematik gestiftet hat, bekommen Mathematiker selten einen Nobelpreis. Herbert Hauptmann (Naval Research Laboratory) mit einem Nobelpreis für Chemie (1985) für seine Beiträge zur Beugung von Röntgenstrahlen ist da eine Ausnahme. Vielleicht wird auch deshalb die Bedeutung der Mathematik in der Öffentlichkeit notorisch unterschätzt. Zum Beispiel beruht die Computertomographie auf der Theorie der (Radon-) Integralgleichungen. Ohne die dazu entwickelten numerischen Verfahren zur Identifikation und Rekonstruktion wäre sie undenkbar. Gleichwohl ist dieser Sachverhalt oftmals nicht einmal dem medizinischen Personal bekannt. Die bei der Computertomographie anfallenden Datenmassen im Terabyte Bereich werden mit modernsten mathematischen Methoden (wavelets, scalar quantization etc.) verarbeitet.

Daß Mathematiker, wie es zum Beispiel mit R. Coifman (Yale) geschehen ist, ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gelangen, ist daher eher selten. Coifman hat mit einer Wavelet-Anwendung die Musik einer teilweise geschmolzenen Wachswalze, welche von Johannes Brahms selbst mit einem ungarischen Tanz bespielt wurde, so gut rekonstruiert, daß man den typischen Stil von Brahms erkennen konnte. Ohne die Mathematik ließ sich nicht einmal die auf der Walze vorhandene Information noch als Musik erkennen. Die gleiche Technologie liegt der Bilderkennung zugrunde, die es dem Hubbleteleskop ermöglicht, die allseits bekannten spektakulären Bilder aus dem Weltall zu schicken.

Von den Mathematikern wird die im vierjährigen Rhythmus verliehene Fields Medaille als ebenso prestigeträchtig wie der Nobelpreis empfunden ([33]). 1994 wurde unter anderen Pierre-Louis Lions für seine Beiträge zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen ausgezeichnet. Lions hat unter anderem mit seinen Viskositätslösungen die Hamilton-Jacobi-Bellmann Gleichung, eine Schlüsselgleichung der dynamischen Programmierung, untersucht. Seine Resultate sind schon in zahlreiche ingenieurwissenschaftliche Anwendungen eingefloßen. Klar ist aber, daß solche herausragenden Ergebnisse nicht in Ingenieurbüros, sondern nur auf dem Niveau hoher mathematischer Abstraktion erzielt werden können.

Die KAM-Theorie (Kolmogorov-Arnold-Moser) in der Himmelsmechanik ist die bedeutenste Entdeckung seit Poincaré für die Theorie der dynamischen Systeme ([28] p. 43). Fast 300 Jahre nach Newton ist damit der Existenznachweis von quasiperiodischen Lösungen für gewisse Klassen von Differentialgleichungen gelungen. Kontrolltheorie und Optimierung erlauben die kontrollierte Bahnbestimmung von Satelliten sehr gut auf rechnerischem Wege. Die KAM-Theorie liefert sogar eine Reihe von Ergebnissen für ungedämpfte Schwingungen für große Zeiten. So hat sich die Ergodenhypothese der statistischen Mechanik als falsch herausgestellt. Danach wurde erwartet, daß ein System von vielen Teilchen nach langer Zeit ein Verhalten zeigt, das von dem Anfangszustand völlig unabhängig ist. Tatsächlich sind die instabilen Systeme oder Bahnen sehr viel seltener als die stabilen. Diese Tatsache hat auch größere Bedeutung für die Teilchenbeschleuniger, etwa bei CERN; KAM-Theorie zeigt, daß man zu Protonenstrahlen gelangt, die ziemlich stabil sind und nur geringe Verluste aufweisen ([38]).

Eine Übersicht über neuere Entwicklungen in der Statistik gibt ([58]).

Grundsätzlich kann man sagen, daß die mathematische Forschung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten organisiert wird. Die angewandte Mathematik greift ihre Fragestellungen unmittelbar aus den Anwendungen in anderen Wissenschaften auf. Unser tägliches Leben ist hier unmittelbar betroffen. Die obigen Beispiele sind mehr oder weniger der angewandten Mathematik zuzuordnen.  Die reine Mathematik wird oft über sehr langfristige Perspektiven ausgerichtet und ist schwieriger zu rechtfertigen. Sie orientiert sich häufig an bekannten ungelösten Problemen, deren Lösung mitunter Jahrhunderte dauern kann. Ein sprichwörtliches Beispiel ist die Quadratur des Kreises [23]. Dieses von den Griechen um ca. 430 v. Chr. aufgeworfene Problem, mit Zirkel und Lineal aus einem Kreis ein Quadrat mit gleich großer Fläche zu konstruieren, wurde erst 1882 von Lindemann gelöst. Obwohl spätestens seit 1801 die Fachleute von der richtigen Anwort, ''Es ist unmöglich, die Konstruktion durchzuführen'', überzeugt waren, dauerte es noch 80 Jahre, bis ein Beweis gefunden wurde. Der Mathematikstudent erfährt üblicherweise im 4. und 5. Semester im Rahmen zweier verschiedener Vorlesungen (Algebra I, Funktionentheorie II) von diesem Beweis. Nicht weil das Ergebnis so wichtig wäre, sondern eher, weil die verwendeten Methoden in vielen anderen, völlig verschiedenen Fragestellungen wichtig sind.

Das zweite Beispiel eines langfristigen Projektes der Mathematik, das wir hier erwähnen wollen, ist der Beweis der Fermatschen Vermutung, der 1995 von Wiles und Taylor gegeben wurde ([51], [53]). Fermat hat um 1630 behauptet, daß die Gleichung

an+bn = cn
 
keine ganzzahlige Lösung a,b,c,n mit n>2 und abc ungleich 0 hat. Für n = 2 hat diese Gleichung viele Lösungen, zum Beispiel die Lösung 32+42 = 52 , die schon in der Bibel ([21]) angedeutet wird. Die Lösungen im Fall n = 2 sind in Anbetracht des Satzes von Pythagoras zur Konstruktion rechtwinkliger Dreiecke nützlich (s.[22]).

Die Meldung über den Beweis ging durch die internationale Presse. Die Geschichte der Fermatschen Vermutung ist eine unglaubliche Erfolgsstory der Mathematik. Es ist nämlich nicht so, daß in der langen Geschichte der Beweisversuche die Mathematiker mal dieses, mal jenes ausprobiert haben. Vielmehr wurde, das kann man rückblickend sagen, der Beweis mit einer unglaublichen Zielstrebigkeit erarbeitet. Jede der einzelnen Etappen zur Lösung dieses Problems wurde in den weiteren Schritten verwendet. In greifbare Nähe eines Beweises glaubte man um 1983 gekommen zu sein, als Faltings in einem wesentlich allgemeineren Kontext gezeigt hatte, daß es für jedes n>3 bestenfalls endlich viele teilerfremde Lösungen a,b,c gibt ([52], [54]). Ein entscheidender Durchbruch gelang dann 1987, als Frey ([50]) die Brücke von der Fermatvermutung zu einer anderen Vermutung der Zahlentheorie schlagen konnte, die aus konzeptionellen Gründen äußerst wichtig für die Mathematik ist ([48]). Betrachtet man all die Schwierigkeiten die bis zum letzen Beweisschritt überwunden werden mußten, so kann man sagen, daß die Spanne von ca. 370 Jahren in Anbetracht der Probleme durchaus angemessen war. Wenn man noch bedenkt, daß die Mathematik viele wichtige Vermutungen und Fragen hat - nicht alle sind so alt, nicht alle so berühmt, wie die Fermatsche Vermutung - und deshalb nicht sämtliche Ressourcen nur auf dieses Problem werfen konnte, so darf die Mathematik als Ganzes mit diesem Erfolg zufrieden sein.

Beiden oben geschilderten gelösten Problemen ist gemeinsam, daß ein unmittelbarer Nutzen nicht zu erkennen ist. Sie gehören beide in das Gebiet der Zahlentheorie, von der der damals führende Mathematiker G. Hardy vor 60 Jahren meinte, daß sie bestimmt keine Anwendungen hätte ([29]). Heute wissen wir das besser: Die für den sicheren Datentransfer stammenden Methoden zur Verschlüsselung kommen aus der Zahlentheorie! Sie sind so gut, daß das amerikanische FBI Schritte zum Verbot einer völlig freien Verwendung unternommen hat ([45]). Es ist abzusehen, daß in kürzester Zeit jeder ein kleines Stück Zahlentheorie eingebaut in Kreditkarten oder Telephonen, mit sich herumtragen wird. Vermutlich wird es eine kleine elliptische Kurve sein ([44],[57]). Dies sind abstrakte Objekte der Mathematik, welche schon Fermat um 1630 dazu benutzt hat, seine Vermutung im Fall n = 4 zu lösen. Übrigens, Freys Brückenschlag besteht darin, eine überraschende Verbindung zu einer Vermutung über elliptische Kurven herzustellen. Der Beweis von Wiles und Taylor besteht, darauf aufbauend, aus einer partiellen Lösung der Vermutung über elliptische Kurven ([53]). Den Wert der Spinoffprodukte eines mathematischen Projekts, wie etwa des Beweises der Fermat Vermutung, heute abschätzen zu wollen, ist unmöglich. Dies ist vergleichbar mit dem Apollo-Programm zur Mondlandung, nur natürlich sehr viel billiger.

Letztlich ist die Unterscheidung in reine und angewandte Mathematik willkürlich ([30]). In jeder mathematischen Forschung gibt es Aspekte der reinen und der angewandten Mathematik. In Bayreuth gibt es eine Aufteilung in Institute für reine und angewandte Mathematik nicht. Wir halten dies für einen Vorteil.

In der Mathematik ist es immer wieder vorgekommen, daß mathematische Theorien formuliert und ausgearbeitet wurden, deren wirkliche Bedeutung in den Anwendungen erst sehr viel später entdeckt wurden. Ein gern erwähntes Beispiel ist hier die Differentialgeometrie auf abstrakten Mannigfaltigkeiten, wie sie Gauß und Riemann 1828 bzw. 1854 eingeführt haben. Riemann hatte bei dieser Theorie durchaus physikalische Anwendungen im Blick. Dennoch fand diese Theorie erst 60 Jahre später die jedermann überzeugende Anwendung in der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein (1914), deren experimentelle Bestätigung 1919 erfolgte. Damit wollen wir nicht sagen, daß die Mathematiker den Physikern stets weit voraus sind. Das Gegenteil war oft genug richtig. Gerade auch in den letzten 10 Jahren ist es wieder zu einem fruchtbaren Austausch zwischen Theoretischer Physik und der Mathematik gekommen, wie es ihn vielleicht seit der Entwicklung der Quantenmechanik nicht mehr gegeben hat. Die Physiker haben Fragestellungen und zum Teil auch Antworten in Bereiche der Mathematik hineingetragen, deren physikalische Relevanz noch vor wenigen Jahren niemand geahnt hat ([49]). Ob es den Physikern gelingt, mit diesen Ideen die einheitliche Feldtheorie zu schaffen, gehört sicherlich zu den spannendsten Fragen der Wissenschaft heute ([42], [43]). Die experimentelle Bestätigung dieser physikalischen Theorien, wie zum Beispiel der Stringtheorie'' steht zwar noch aus, aber schon heute ist klar, daß die Anwendungen dieser Theorien in der Mathematik(!) nicht mehr wegzudenken sind ([56], [55]).

Im Verhältnis der Mathematik zur Physik und auch zu allen anderen Wissenschaften taucht die Frage auf, warum die Mathematik so gut dazu geeignet ist, naturwissenschaftliche Phänomene zu beschreiben ([40],[41]). Die pragmatische Antwort, daß die Mathematik eben gerade dazu entwickelt worden ist, greift nicht ganz. Dazu ist es viel zu oft vorgekommen, daß die Entwicklung der Mathematik zunächst unabhängig von irgendeiner Anwendung geführt wurde, und erst später entdeckt wurde, wie gut die Theorie für Anwendungen paßt. (Auch erklärt dies nicht, warum eine Theorie, die für eine Anwendung entwickelt worden ist, in völlig unterschiedlichen Situationen wieder greift.)

Was Mathematik ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist eine Antwort:

''Mathematik ist, was die Welt
im Innersten zusammenhält.'' ([13]).


Studienführer Mathematik der Universität Bayreuth
Next: Zusammenfassung Up:  Fragen  Previous:Wo studiert man Mathematik?