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Felix Klein

Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus. Teil 1. 1908.

S.586-590

 

Zum Schluß dieser Betrachtungen über Mengenlehre haben wir nun wieder die Frage zu stellen, mit der wir unser ganzes Kolleg begleiteten: Was kann man davon auf der Schule gebrauchen? Man sollte diese Frage für überflüssig halten, denn eigentlich muß doch jeder Mensch zugeben, daß man dem Schüler mit so abstrakten und schwierigen Dingen nicht so bald kommen dürfe. Aber diese Erkenntnis herrscht nicht so allgemein, wofür ich nur ein Beispiel anführen will. Bald nachdem Cantor mit seiner Theorie hervortrat, schrieb ein Freund von ihm, Friedrich Meyer, - übrigens ein hervorragender Mathematiker – ein Schulbuch: Elemente der Arithmetik und Algebra.

Hier wird in der Tat der Versuch gemacht den arithmetisch-algebraischen Lehrstoff der Schule von Beginn an unter Voranstellung der Mengenlehre systematisch zu ordnen: Auf pag. 1. wird mit der allgemeinen Idee der Mächtigkeit einer Menge begonnen, auf Seite 6 wird das Symbol ω für die Mächtigkeit der abzählbar unendlichen Menge (1,2,3 …) eingeführt, und auf S. 21. endlich ist der Verfasser in seiner Deduktion bis zur Tabelle des kleinen Einmaleins gelangt! Im übrigen ist in dem Buche eine ungeheure Menge Stoff enthalten, aber ganz entgegengesetzt den Reformvorschlägen die ich hier immer befürworte. Von Infinitesimalrechnung findet sich natürlich keine Spur, aber auch die Raumanschauung und überhaupt, „genetische“ Methoden kommen durchaus nicht zu ihrem Recht. Vielmehr findet sich in der Vorrede der charakteristische Ausspruch, daß die Analysis und Arithmetik jetzt „der Krücken der Geometrie nicht mehr bedürfe“, nachdem durch die Mengenlehre eine rein logische Begründung des Kontinuums ermöglicht sei.

Wir können natürlich von unserem mathematisch-pädagogischen Standpunkte aus die durch dieses Buch besonders charakteristisch vertretene Richtung nicht billigen. Es mag wohl möglich sein, daß ein so tüchtiger Mann wie F. Meyer in seiner Weise einmal einen mathematisch besonders veranlagten jungen Mann sehr fördern und anregen kann, aber – wenn anders es der Zweck des Schulunterrichts ist, nicht nur solche besondere Talente auszubilden, sondern den Durchschnitt wesentlich zu fördern – so kann es meiner Meinung nach nichts Unzweckmäßigeres geben, als ein solches abstraktes systematisches Verfahren.

Ich möchte hier, um meine Ansicht hierüber zu präzisieren, das biogenetische Grundgesetz heranziehen, daß das Individuum in seiner Entwicklung in abgekürzter Reihe alle Entwicklungsstadien der Gattung durchläuft; solche Gedanken sind ja heute nachgerade Bestandteile der allgemeinen Bildung eines jeden geworden. Dies Grundgesetz, denke ich, sollte auch der mathematische Unterricht überhaupt, im allgemeinen wenigstens befolgen: Er sollte, an die natürliche Veranlagung der Jugend anknüpfend, sie langsam auf demselben Wege zu höheren Dingen und schließlich auch zu abstrakten Formulierungen führen, auf dem sich die ganze Menschheit aus ihrem naiven Urzustand zu höherer Erkenntnis emporgerungen hat!

Es ist nötig, diese Forderung immer wieder zu stellen, denn stets wieder gibt es Leute, die nach Art der mittelalterlichen Scholastiken ihren Unterricht mit den allgemeinsten Ideen beginnen und diese Methode als die allein wissenschaftliche rechtfertigen wollen. Und doch ist auch die Begründung nicht wahr: Wissenschaftlich unterrichten kann nur heißen, den Menschen dahin bringen, dass er wissenschaftlich denkt, keineswegs aber ihm von Anfang an mit einer kalten, wissenschaftlich aufgeputzten Systematik ins Gesicht springen.

Ein wesentliches Hindernis der Verbreitung einer solchen naturgemäßen und wahrhaft wissenschaftlichen Unterrichtsmethode ist wohl der Mangel an historischen Kenntnissen, der so vielfach sich geltend macht. Um ihn zu bekämpfen, habe ich besonders gern zahlreiche historische Momente in meine Darstellung verflochten. Lernen Sie daraus, wie langsam alle mathematischen Ideen erst entstanden sind, wie sie fast stets in mehr divinatorischer Gestalt auftauchen und erst in langer Entwicklung die starre und auskrystallisierte Form der systematischen Darstellung annahmen! Möge diese Erkenntnis einst – mit diesem Wunsche möchte ich meine Vorlesung schließen – nachhaltigen Einfluß auf die Gestaltung Ihres eigenen Unterrichts an der Schule gewinnen!

Adresse

Univ.-Prof. Dr. Anselm Lambert
Lehrstuhl für Mathematik und ihre Didaktik

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Lehrstuhl für Didaktik der Primarstufe - Schwerpunkt Mathematik

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