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§51. Aus der allgemeinen Didaktik als Bildungslehre [1].

 

Blicken wir zurück auf den Ausgangspunkt des I. Teiles „Ziele und Wege des mathematischen Unterrichts“, so war es sogleich der ganz einer allgemeinen Didaktik angehörende Begriff der „formalen Bildung“, der unserer Darstellung ihre Richtung gab. Dies aber nicht in der hergebrachten Weise, daß wir diesen Begriff oder dieses Schlagwort einer „formalen Bildung“ als etwas über allem Zweifel Erhabenes hinnehmen und alle weitere Darstellung von ihm abhängig machen; sondern genau entgegengesetzt wählten wir in bewusster Einseitigkeit den mathematischen Inhalt zum ersten notwendigen Bestimmungsstück der unterrichtenden Tätigkeit jedes Mathematiklehrers. Denn sogleich vom Anfang zwei Ziele auf einmal verfolgen zu wollen, das formale und das inhaltliche, erschien als so bedenklich wie jede Doppelheit von Zielen überhaupt, sei es beim Wandern, sei es beim Forschen. Da es also von den doppelten Zielen einer inhaltlichen wie formalen Bildung keineswegs im vorhinein einleuchtet, dass es ein und derselbe Weg sei, der zu ihnen führt, so behandelten wir die Doppelheit der Wege ähnlich einem Scheideweg und entschlossen uns in bewusster vorläufiger Einseitigkeit, vom Anfang bis zum Ende unseres Lehrganges die, inhaltlichen Ziele fest im Auge zu behalten und abzuwarten, wieviel von den „formalen“ sich dabei von selbst mit erreichen lasse. Jetzt aber, am Ende dieses Weges, den wir in raschen Schritten durch die acht oder neun Lebensjahre und die ihnen zufallenden Lehrinhalte, zum Teil sogar nur springend, durchmessen haben stehen wir vor der Restfrage, ob wir hiermit dem Ziel einer formalen Bildung von selber ebenso nahe gekommen seien, als wenn wir dieses von vornherein zum Hauptziel, dagegen die inhaltliche Bildung im mathematischen Anschauen und Denken nur zu einem Mittel gemacht hätten, wie es bisher im mathematischen Unterricht fast ausnahmslos üblich gewesen war.

Indem wir so jene vorläufige Einseitigkeit wettmachen durch die ausdrückliche Erklärung, dass wir den schön im Begriff jeder Bildungsarbeit liegenden gesunden Kern des Begriffes einer formalen Bildung ebenso gut zu schätzen wissen wie die beredtesten Formalisten, wollen wir allerdings nicht verhehlen, daß uns das für diesen Begriffskern übliche Wort „formal“ ein wenig glückliches, ja infolge seiner Eignung zum bloßen Schlagwort sogar geradezu verhängnisvoll scheint. Es teilt diese üblichen Eigenschaften mit dem Worte „Form“ überhaupt, hinter dem sich Unklarheiten und Dürftigkeiten von jeher z. B. ebenso in der Philosophie wie in den schönen Künsten, ja selbst im gesellschaftlichen Leben, zu verbergen liebten.

Der uns jetzt allein angehende Gegensatz auf didaktisch-pädagogischem Gebiete wird viel schärfer als durch die abgegriffenen Wörter „Inhalt“ und „Form“ durch das schon berührte Begriffspaar der „Unterrichts- und Erziehungswerte“[2] getroffen.

Vorauszuschicken ist hier nur ein klärendes Wort, mit welchem Recht Unterricht und Erziehung bald nebeneinander als koordinierte Begriffe, bald wieder so genannt und verwendet werden, daß das Unterrichten unter das Erziehen fällt als ein ihm logisch subordinierter Teil – hier noch gar nicht zu sprechen von der ethischen Höherbewertung eines durch die Erziehung zu entwickelnden guten Wollens im Vergleich zu dem durch bloßes Unterrichten zu erzielenden bloßen Wissen. Daß ein in diesem Sinne „erziehender Unterricht“, soweit er überhaupt möglich und nicht erst durch Künsteleien[3] zu erzwingen ist, höher stehe als ein bloß an den Intellekt sich wendender Unterricht, darf hier einfach als praktisch zugestanden vorausgesetzt werden. Für eine exakte pädagogische Theorie aber, die das Aus- und womöglich Anbilden wertvoller psychischer Dispositionen[4] überhaupt als Ziel aller Erziehung formuliert, ist es die natürliche Begriffsbestimmung, das Unterrichten auch schon rein logisch dem Erziehen zu subordinieren[5] und nicht einfach ihm zu koordinieren.

Denn angenommen, es gäbe ein Unterrichten, das nur den Intellekt, gar nicht den Charakter bildet, so wären ja auch die rein intellektuellen Dispositionen eines klaren Vorstellens, eines sicheren Urteilens sicherlich „wertvolle Dispositionen“ und ihre Ausbildung fällt also ohne weiteres unter jenen allgemeinen Begriff des Erziehung[6].

Um nun dem unzähligemal behandelten Gegebenstande von Erziehungswerten der Mathematik womöglich noch einige neue systematische Gesichtspunkte zu erschließen, regen wir hier an, sich anstatt gelegentlicher, wenn auch nocht so vielseitiger Einfälle über die verstandesbildende, die phantasiebildende Kraft des mathematischen Unterrichtes usw. zur Abwechslung einmal einer systematischen Psychologie als Leitfaden zu bedienen.

Es mag daran erinnert sein, daß dort zwischen Vorstellung- Urteil-, Gefühls- und Begehrungsdispositionen unterschieden wird. – Dabei gliedern sich schon die Vorstellungen nach vielerlei[7] Einteilungsgründen; die Begehrungen vor allem in zwei: Wünschen und Wollen (wobei das „Streben“ nicht ein drittes Glied bildet, sondern ein Wollen des in fernerer Zukunft Liegenden ist). Es fehlt viel, beinahe alles, daß auch nur die Psychologen untereinander über diese primitivsten Gliederungen (die nicht aus einer öden Lust am Einteilen, sondern aus einem doch wohl berechtigen Wunsch einiger Vollständigkeit im Überblicken der vollen Mannigfaltigkeit seelischer Tatsachen entspringen) einig wären, und es fehlt daher noch viel mehr, dass die Mathematiker und die mathematischen Didaktiker sich zu einer systematischen Kenntnisnahme aller dieser psychologischen Arten und Unterarten, der Schülerseele durch Mathematik von so vielen, womöglich allen Seiten her beizukommen, verpflichtet fühlten. Daher soll auch das Nachfolgende nicht eine Ausführung, sondern höchstens Proben von einem Programm zukünftiger planmäßiger Bebauung des gesamten Gebietes einer mathematischen Bildungslehre darstellen.

Beginnen wir also für jetzt nicht nach der Reihenfolge der psychologischen Grundklassen, die in einer systematischen Psychologie noch immer mit Vorstellungen (einschließlich Empfindungen) beginnen[8] und mit dem Willen endigen müssen; sondern beginnen wir im Hinblick auf die pädagogische Abstufung der Erziehungswerte diesmal wirklich sogleich mit dem Willen, der Willensbildung durch Mathematik. Es wird sich ja dann alsbald zeigen, daß und warum sie auf die Pflege intellektueller Zustände, letztlich evidenter Urteile, angewiesen ist; denn ihre Gewinnung ist ja hier das Ziel des Wollens.

 

I. Willensbildung durch Mathematik

Zu diesem ebenfalls unzähligemal behandelten Thema bilden das eindringlichste konkrete Beispiel die mathematischen Aufgaben: Die Aufgabe als solche gibt ja dem Schüler den sozusagen greifbaren Anlaß, in sie sich zu verbeißen und hiebei eine Zähigkeit des Wollens zu entwickeln, mit der ja vielleicht in der Tat im ganzen sonstigen Unterricht nichts zu vergleichen sein mag. Auch eine bissige Stelle beim Übersetzen aus einer Fremdsprache hält dem Schüler zwar ebenso unerbittlich das Bewußtsein vor, daß er die Lösung noch nicht habe; aber was er dann als Lösung anerkennen dürfe, das läßt ihn die Fremdsprache nicht ebenso unzweideutig schon während der Arbeit des Suchens erkennen wie die Mathematik. Hier gibt es, wenn keine anderen Kriterien, schließlich die Rechenprobe[9] oder das Konstruieren mit Zirkel oder Lineal, um aus eigener Entscheidung zu erkennen, ob es dann wirklich klappt. Die befriedigende Übersetzung dagegen gibt doch immer nur eine mögliche, nicht die notwendige Lösung der Schwierigkeit. Doch bleibe die Überprüfung eines solchen Übergewichts der mathematischen Aufgabe über jede andere wie billig der gemeinsamen Erwägung und Abwägung der Fachlehrer der verschiedenen Fächer vorbehalten (sie gehört aus den an der Spitze des § 1 angeführten Gründen nicht in den I., sondern in den X. Band dieser Handbücher).

Für die schärfere psychologische Analyse, was im Schüler bei solchem Verbeißen[10] in eine Aufgabe Analyse emotional vor sich geht, ergäbe sich die Unterscheidung, daß das oft nicht eigentlich Übungen im Wollen, sondern nur im Wünschen sind. Streng genommen kann der Schüler ja nur wünschen, bei jeder noch so schwierigen Aufgabe die richtige Lösung zu finden; er kann dies auch, wenn er (gleichviel ob mit Recht oder Unrecht) der Meinung ist, daß das Erreichen dieses Zieles seine Kräfte übersteige. Wollen können wir ja nur, dessen Erreichen wir nicht für unmöglich halten (nicht zu verwechseln damit, als müßten wir uns vor dem Wollen auch schon über das Möglich ein Urteil gebildet haben[11]. Der theoretisch geschulte Psycholog findet alle diese Nuancierungen der Willenspsychologie verwirklicht in jedem Brüten des Schülers über der Lösung einer mathematischen Aufgabe; und ist der Lehrer psychologisch geschult, so versteht er, warum manches Abmühen den Schüler nicht übt, sondern lähmt. Aber diese entscheidenden Kriterien über den schließlichen pädagogischen Wert jener sozusagen mathematischen Willensübungen sind nicht durch noch so fein geschliffene psychologische Formeln abstrakt und allgemein für die pädagogische Praxis abzugrenzen; sondern da die psychologische Abstraktion hier wie sonst überall erst in der praktischen Pädagogik selber den Befähigungsnachweis zu erbringen hat, ob sie dem Seelenleben des Schülers bis in die einzelnsten, für den einzelnen Fall eben noch wesentlichen Züge zu folgen vermocht hatte, so genüge hier die Einladung an den Mathematiklehrer, Gelingen und Mißlingen der von ihm dem Schüler auferlegten Übungen einmal unter solchen psychologischen Gesichtspunkten vor sich selber zu überprüfen. Das wird dann nicht nur zur Bestätigung des leider nur zu bekannten Falles führen, daß, wenn einem Lastpferd eine Aufgabe gestellt wird, die es schließlich für zu schwer erkennt, es sogar durch Peitschenhiebe nicht mehr zu weiteren Anstrengungen zu bewegen ist. Es wird auch nicht nur zu Trivialitäten und Binsenweisheiten führen wie die, daß die Aufgaben immer nur langsam an Schwierigkeit zu steigern seien u. dgl. m. Es wird aber vielleicht die Grenzen abstecken helfen zwischen einer aus dem wachsenden Kraftgefühl sich stetig steigernden Lust an mathematischer Arbeit als solcher und dem Ausarten des mathematischen Interesses zur Lust an mathematischen Sport. Freilich, wer wollte einem Schachspieler sagen und beweisen, daß bis hieher sein Interesse ein gesundes, von da ab ein einseitiges, Kraft verschwendendes sei? Wer wollte überhaupt dem Sport Grenzen vorschreiben, die er ja natürlich gerade dann, wo er zum Unsinn geworden ist, weder kennen noch erkennen kann? Also wird man auch immer einzelne Fexe des Gleichungs- und Konstruktionsaufgabenlösens in den Kauf nehmen müssen. Nur gegen eine Unterrichtsorganisation, die es auf das Züchten der Fexerei von vornherein anlegte und wohl gar die ihr im Unsinn nicht folgenden Schüler disqualifiziert, werden sich die gegenüber allen Auswüchsen eines Sportes schließlich doch in der Majorität verbleibenden Vernünftigen auflehnen dürfen. – Einfach auf die Seite solcher gesunden Vernunft aber stellen sich die Meraner Vorschläge mir der Warnung vor denjenigen Aufgabengattungen, die die mathematische Willensübung in bloßen mathematischen Sport zu verkehren am meisten Gelegenheit gegeben haben.

 

II. Gefühlsbildung durch Mathematik

Ist aber nicht von allen auszudenkenden Bildungswerten der Mathematik wenigstens gerade dieser eine von vornherein ausgeschlossen? Ja – wenn man bei „Gefühlen“ nur an unklarstes, schwankendstes Psychisches denkt oder gar, wie Sschopenhauer, im Begriff „Gefühl“ nur etwas Negatives, nämlich den kontradiktorischen Gegensatz zum „Wissen“ sieht. Denn da von dem Wissen, „Lernen“ (μαθ) die Mathematik geradezu ihren Namen hat, so scheint diese Abweisung schnell begründet. Erinnert sich aber der Psycholog der „Wissens- und Wertgefühle“[12] und unter den „höheren Werten“ der logischen, ethischen und ästhetischen, so sieht die Sache sogleich minder hoffnungslos aus.

Unter logischen Gefühlen[13] wird wesentlich dasselbe verstanden, was man Interesse nennt. Und nicht nur bedarf es keines Wortes darüber, wie rege mathematisches Interesse gerade auch schon im Schüler sein kann, sondern immer wieder wurde die ganz besondere Eignung mathematischer Stoffe hervorgehoben, im Schüler das reine theoretische Interesse (sozusagen ein uninteressiertes Interesse) zu wecken und zu pflegen. Das mag auch dem Schüler selber bei guten Gelegenheiten gesagt werden – und „gut“ sind natürlich nur solche, in denen er dieses Interesse soeben aufrichtig und stark selber erlebt hatte. Dann aber mag es auch in Ausdrücken eines so starken Enthusiasmus und Idealismus geschehen, wie ihm PLATON Worte verliehen hat, wenn er immer wieder das Mathematische als ein dem Göttlichen Ähnliches pries, - Zu „schwanken“ brauchen solche Gefühle keineswegs – aber freilich würde es einer psychologischen und gegenstandstheoretischen Reife, wie sie die Neuplatoniker von heute keinesfalls schon erwiesen haben, bedürfen, um vorerst dem Lehrer und dann vielleicht, vielleicht sogar dem Schüler zu zeigen, wie ohne alle Mystik die Eigenart des mathematischen Denkens uns heranführt an eine „daseinsfreie“ Welt eigenartiger Schönheit, die in mathematischen „Gestalten“ ihren Ausdruck findet und so den Kreislauf, der mit Klarheit des „Anschauens“[14] anhebt und im Fühlen der Schönheit mündet, harmonisch eröffnet und abschließt.

Aber wenigstens die ethischen Gefühle und mit ihnen die ethischen Werte müssen in der Mathematik leer ausgehen? Wieder: Ja – wenn wir das Ethische einschränken auf das: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Denn hier klafft freilich die Kluft zwischen dem Wohl des Nächsten, dem „Humanen“ und insofern „Humanistischen“ einerseits – Zahl, Zeit, Raum und was immer für Fundamenten apriorischer Beziehungen, dem „Realistischen“ im weitesten Sinne andererseits, allzu breit und tief.

Aber gemach: Auch die altruistische Ethik beansprucht nur als Kern aller Güte, aller Ethik zu gelten, und sie verschließt sich nicht[15] der ethischen Würde der Wahrheit, der Schönheit. Wenn wir der unerschöpflichen Freude eines Mozart an Musik ethischen Adel zuerkennen, so gewiss nicht minder der Antwort NEWTONS auf die Frage, wie er seine mathematischen Entdeckungen machen konnte: „Weil ich immer an sie gedacht habe.“ Kann den Schüler auch nur zeitweilig seine Liebe zur Mathematik recht erfüllen (und die anderen Fächer mögen dann nicht sogleich eifersüchtig werden), so werden wir ihn auch sittlich zu dieser Zeit in guter Hut wissen. Geben wir uns aber dann nur keinem schönen Wahn darüber hin, daß Leben und Leidenschaften – wir müssen es sogar hoffen – ihn nicht mit Versuchungen überraschen werden, vor denen ihn seine mathematischen Passionen allein freilich nicht schützen würden.

 

III. Urteilsbildung durch Mathematik

Zu diesem Gegenstande ist hier fast nichts mehr zu sagen, man müßte denn den Mut haben, das unzählige Mal gut Gesagte wirklich noch einmal zu sagen. Die vielberufene „Verstandesbildung“ durch Mathematik gehört genau hieher, da eben der Verstand nichts ist als Disposition zu richtigem Urteilen. Nur eines noch einmal: Nicht auf das richtige Urteilen allein kommt es an, sondern auf richtig Urteilen mit Einsicht in die Richtigkeit. An dieser einfachen Ergänzung und Vertiefung versündigt sich, wie in allen Teilen dieses Buches zu erinnern war, aller Unterricht, der, weil in der Mathematik die richtigen Sätze sich so haarscharf von den halbrichtigen und unrichtigen unterscheiden wie in keiner anderen Wissenschaft und keinem anderen Gebiete außerwissenschaftlicher Erkenntnis, nun einfach diese Sätze haufen- und tonnenweise[16] auswendig lernen lässt. Und noch eins. Auch hier kommt es ja nicht so sehr auf das richtige Urteil als psychisch aktuellen Urteilsvorgang als auf die bleibende Urteilsdisposition an. Wie soll aber eine solche Disposition zu einsichtigem, evidentem Urteil entstehen, wenn die einzelnen Urteile evidenzlos, wenn sie nur korrekt hergesagte „Sätze“ gewesen waren? – Angesichts des geradezu unermeßlichen Unfugs, der gegen das, was nachgerade Binsenwahrheit sein sollte, in einer ausgedehnten Schulpraxis noch immer geübt zu werden scheint, sei diesem Thema vom einzig gesunden Verhältnis zwischen mathematischem Denken und Sprechen alsbald ein eigener Paragraph (§ 52) gewidmet.

 

IV. Vorstellungsbildung durch Mathematik

Hieher gehört vor allem alles, was an der Spitze dieses Dritten Teiles über „Die psychologischen Grundlagen des mathematischen Denkens“ gesagt wurde. Denn die Grundlage alles „Denkens“ im Sinne von Urteilen (und Annahmen) bilden ja doch die Vorstellungen – die Wahrnehmungs- und Phantasievorstellungen, die Erst- und Zweitvorstellungen[17] – die wir in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit besser in den Terminus „Denken“ ein- als von ihm ausschließen. Bekanntlich hat sich eine Mehrzahl von Psychologen bis zum heutigen Tage noch nicht dazu aufraffen können, innerhalb der intellektuellen Vorgänge neben dem Vorstellen auch dem Urteilen einen besonderen Platz einzuräumen. Umgekehrt sehen wir die modernste, intellektualisierende Mathematik geneigt, über den Urteilen die Vorstellungen, über dem „Verstand“ die „Sinnlichkeit“ zu übersehen. Vielleicht kann es gemäß dem „ex errore discimus“ gerade der mathematischen Didaktik in ihrer bisherigen Verfassung, sobald sie nach Psychologischem auszublicken anfängt, recht und willkommen sein, wenn zeitweilige Einseitigkeiten im mathematischen Urteilen daran erinnern, daß wir um so weniger der grundlegenden Vorstellungen vergessen oder sie geringschätzig behandeln dürfen. Es war insofern einer der grundlegenden Programmpunkte vorliegenden Buches, nicht nur auf die „Pflege der Raumanschauung“ zu dringen, sondern geradezu behufs einer Reform des mathematischen Denkens (im engeren Sinne) vor allem einer weit- und tiefgehenden Belebung und Bereicherung des mathematischen „Anschauens“ und „Anschaulichen“ bis hinunter zu den „Wahrnehmungsvorstellungen“ (im Gegensatz zur mißverständlichen und mißverstandenen „reinen Anschauung“ – vgl. S. 449) das Wort zu reden . - -

Möchten diese wenigen Proben aus einer auf elementarpsychologische Tatsachen und Begriffe zurückgehenden Besinnung über die Möglichkeit und Notwendigkeit, auf diese Gegebenheiten der Schülerseele zurückzugehen, recht vielen Fachgenossen auch in der Schulmathematik eine Einladung sein, es mit solcher planmäßigen psychologischen Vertiefung ihrer Unterrichtspraxis und Theorie zu versuchen – wieviel und wie schöne Beiträge, z. B. über die Beziehungen zwischen Mathematik und Phantasie[18], sie auch schon ohne systematische Psychologie zu bieten vermochten. Erst nach viel zahlreicheren und gründlicheren Einzelbeiträgen aus den philosophischen Grundlehren einer „Didaktik als Bildungslehre“ überhaupt wird es an der Zeit sein, an den allseitigen Zusammenschluß dieser Beiträge zu gehen. Oder sollte sich bis dahin unsere Schulmathematik auch ohne alle Schulphilosophie zu ganz neuen Formen und Inhalten entwickelt und ausgestaltet haben? Innerhalb der gegenwärtigen „zeitgemäßen Umgestaltung“ dürfen solche Zukunftsfragen auf sich beruhen. Kehren wir daher zu Allernächstliegendem zurück.

 

[1] Absichtlich lasse ich den Titel des letzten Abschnitts anklingen an den Titel des Hauptwerkes meines Amtsvorgängers an der Universität Prag, Otto Willmann. Seine „Didaktik als Bildungslehre“ ist in 3. Auflage 1904 erschienen. Mit ihrem vielseitigen Inhalt mögen nicht nur die Andeutungen dieses Schlussabschnittes unseres I. Bandes, sondern auch überhaupt die zehn Bände unserer Didaktik speziell des realistischen Unterrichtes verglichen werden. Ohne Zweifel würden von beiden Seiten her, von der der allgemeinen wie jeder speziellen Didaktik, die Wege noch sehr viel weiter auszubauen und zu beschreiten sein, damit sie sich zu einem geschlossenen Verkehrsnetz verbinden, innerhalb dessen dann hoffentlich nicht mehr wie bisher nur allzuhäufig die pädagogischen Theoretiker und didaktischen Praktiker aneinander vorbeigehen.

[2] Vgl. oben §1, S. 15 und § 5, S. 38 – Ich habe diese Unterscheidung von „Unterrichtswerten“ und „Erziehungswerten“ zugrunde gelegt meinem ersten Beitrag zur Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht (Jhg. II 1988, S. 1-9) „Die humanistischen Aufgaben des physikalischen Unterrichtes“. – Denselben Titel führt meine Prager Antrittsvorlesung (1903, mit Zusätzen, 17 Seiten, Vieweg 1904).

[3] Hermann Schwarz führt im ersten seiner Artikel „Die experimentale Pädagogik in Deutschland (Neue Jahrbücher für das klassische Altertum usw. und für Pädagogik, 1907-09) Beispiele solcher Künsteleien aus der Ausdehnung des Zillerschen Gesinnungsunterrichtes auf den ersten Rechenunterricht an.

[4] Vgl. meine Wiener Antrittsrede „Pädagogik und Philosophie“ (als dritter der „Drei Vorträge zur Mittelschulreform“, 1908), S. 131.

[5] Theobald Ziegler beginnt seine „Geschichte der Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf das höhere Unterrichtswesen“ (Baumeister Handbuch, zweite Aufl. 1904 [dritte Aufl. 1909]) mit der Feststellung: „Erziehen und Unterrichten, Gewöhnen und Lehren, Üben und Lernen gehören zusammen und bilden erst zusammen ein Ganzes und das Ganze. Daher ist Pädagogik nicht identisch mit Didaktik oder Unterrichtslehre, als ob Unterrichten das einzige Geschäft des Pädagogik wäre, ist derselben aber auch nicht koordiniert, so daß die Aufgaben des Lehrers für sich und getrennt von denen des Erziehers betrachtet werden dürften; sondern beide bilden zusammen eins, in der Weise, dass die Didaktik einen wesentlichen Bestandteil der Pädagogik ausmacht; weil zur Erziehung auch der Unterricht gehört, gehört die Didaktik zur Pädagogik.“

[6] Mit diesem grundsätzlichen inneren Verhältnis stimmt es dann zwar äußerlich nicht, wenn in den Lehrerbildungsanstalten das eine Jahr „Erziehungslehre“, das andere Jahr „Unterrichtslehre“ auf dem Lehrplan steht. Und um so mehr wiese die herkömmliche Parallelisierung von „Pädagogik und Didaktik“ auf Koordination, nicht Subordination hin. Man wird aber nicht erwarten oder es der Mühe wert halten, diese Herkömmlichkeiten der Bezeichnungsweisen um jener Prinzipienfrage willen umstürzen zu wollen. Genug, wenn man sich klar gemacht, daß, wer – um wieder zu dem für uns Nächsten zurückzukehren – Mathematik gut unterrichtet, auch jedenfalls gut erzieht, sei es bloß den Intellekt; sei es, was wichtiger ist und bleibt, den Willen.

[7] In meiner Psychologie, § 8, nicht weniger als sieben. Ein von außen her Urteilender hat zwar schon aus dieser bloßen Siebenzahl der Einteilungsgründe auf „Formalismus“ einer solchen Psychologie geschlossen. Vielleicht würde er bei näherem Zusehen (und nachdem er sich die Frage vorgelegt hätte, welche dieser vielen Einteilungen etwa keinen wirklichen und wichtigen Unterschied innerhalb unseres Vorstellungslebens trifft) zu dem entgegengesetzten Eindruck gekommen sein, daß gerade eine solche Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit ebenso erfreulich ist wie z. B. die einer Flora und Fauna, und daß das Nichtbeachten sachlich gegebener Unterschiede und das Unterlassen hierauf sich gründender Einteilungen nur eine Folge und ein Zeichen zurückgebliebener Beobachtungskraft der betreffenden Wissenschaft wäre, sei es Botanik und Zoologie, sei es die Psychologie.

[8] Der psychologisch kundige Leser wird diese Art des Voranstellens der Vorstellungen in einem System der Psychologie nicht verwechseln mit Herbarts gescheitertem Versuch, alle anderen psychischen Phänomene, z. B. auch Gefühl und Willen, auf Vorstellungen „zurückzuführen“.

[9] Freilich liefert auch die „Probe“ nur Evidenz der Wahrscheinlichkeit (vgl. meine Logik, § 53), nicht Evidenz der Gewißheit. Aber das Defizit zwischen jener Wahrscheinlichkeit und der Gewißheit ist bei einer gelingenden Rechnungsprobe, zumal wenn diese von verschiedenen Seiten her durchgeführt wurde, bei weitem kleiner, als wenn das Übersetzen einen plausiblen Sinn gegeben hat. Der Schüler ist oft schwer verwundert, wenn der Lehrer die Übersetzung dennoch abgelehnt; nach einer stimmenden Rechnungsprobe ist er vor solcher Enttäuschung bei weitem sicherer.

[10] Simon (1908, S. 39) schildert sehr hübsch und warnt mit Recht: „Es klingt harmlos, wenn ein junger einflußreicher Lehrer seinen Tertianern regelmäßig sagt: „Überlegt euch bis zur nächsten Stunden mal diese zwei bis drei Aufgaben, wer keine Lust hat, läßt’s sein, und wenn einer nichts herausbringt, so macht’s auch nichts’, - ja, aber die Jungen, die sitzen bis in die Nacht hinein, und ihr ganzes Sinnen und Trachten ist gefesselt. Die anderen Fächer werden dadurch geschädigt.“

[11] Näheres in meiner Psychologie § 80; ferner in „Hundert psychol. Schulversuche“ (s. o. S. 111), Versuch Nr. 100.

[12] Nach Meinong; vgl. meine Psychologie § 61, 66.

[13] Psychologie § 70.

[14] Über die Korrelation von Anschauen und Gestalt (analog der von Hören und Schall [Klang, Geräusch], Sehen und Farbe [auch von Gesichtsraum-Empfindungsinhalten], überhaupt von psychischen Akten und ihren Gegenständen) vgl. „Räumliche und raumlose Geometrie“.

[15] Vgl. Psychologie § 71 (S. 475 der großen Ausgabe).

[16] Mir drängte sich dieses Bild auf, als ich dieser Tage an der Adria Millionen von Sardellen in die Fässer stampfen sah. Diese lebten gerade so wenig mehr wie die geometrischen Sätze unserer gedruckten Elementarbücher und ihre Nachplapperungen in unseren dumpfen Schulstuben. Die lebendige Mathematik aber muß in den Köpfen und zwischen den Fingerspitzen und erst ganz zuletzt auf den Zungen schon unserer kleinsten Schüler etwas so Lebendiges sein wie der Fisch im Wasser.

[17] Diese Termini habe ich vorgeschlagen in der Abhandlung „Räumliche und raumlose Geometrie“ in Anlehnung und Fortführung des von Meinong eingeführten Terminus „Gegenstände höherer Ordnung“ (Ztschr. f. Psychologie, 1899, Bd. XXI, S. 182-272 [auch in Sonderausgabe]) Da sich z. B. auf den Gegenständen „Grün“ und „Blau“ die Relation Verschiedenheit „aufbaut“ („fundiert“ ist durch jene „Fundamente“ der Verschiedenheitsrelation), so sind in diesem Beispiel „Grün“ und „Blau“ „Gegenstände niederer Ordnung“ (inferiora), die Verschiedenheit ein „Gegenstand höherer Ordnung“ (superius). Ich schlug nun vor, statt „Inferiora“ und „Superiora“ zu sagen Erst- und Zweit- (auch Dritt-…) Gegenstände und dementsprechend auch Erst- und Zweit-Vorstellungen.

[18] z.B. Daninger, Ästhetisches aus der Mathematik und Physik (1907, Programm des Altstädtergymnasiums in Prag).

Adresse

Univ.-Prof. Dr. Anselm Lambert
Lehrstuhl für Mathematik und ihre Didaktik

Universität des Saarlandes
Campus, Geb. E2 4, Raum 407/408
66123 Saarbrücken

Univ.-Prof. Dr. Melanie Platz
Lehrstuhl für Didaktik der Primarstufe - Schwerpunkt Mathematik

Universität des Saarlandes
Campus, Geb. E2 4, Raum 418/419
66123 Saarbrücken

 

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