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Vorwort aus Raumlehre oder Geometrie, nach den jetzigen Anforderungen der Didaktik für Lehrende und Lernende bearbeitet von Dr. F. A. W. Diesterweg, Direktor des Seminars für Stadtschulen in Berlin. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Mit neun Steintafeln. Bonn, bei Eduard Weber, 1843.

Wenn Manche, welche dieses Buch in seiner zweiten Erscheinung ansehen, mit ihm entweder durchaus oder zum Theil nicht zufrieden sind, so muß ich ihnen offen bekennen, daß ich es auch nicht bin. Nicht, als wenn ich glaubte, ein ganz schlechtes Opus geliefert zu haben; aber ich bin der Ueberzeugung, es ließe sich nach dem jetzigen Standpunkte der Didaktik von Anderen mehr leisten, und die andre Ueberzeugung steht nicht fest, daß ich überall das Richtige getroffen. Ich muß mich darüber noch etwas näher erklären, es trägt zur richtigen Auffassung und Behandlung der Raumlehre bei.

So lange man den ersten geometrischen Schul=Unterricht nach Euklid ertheilte oder gab (gab im eigentlichen Sinne des Wortes), konnte er nicht gedeihen. Euclid’s Elemente find ein logisches Kunstwerk, seine Anweisung für den Unterricht. Ihr Verfasser ist ein Denkkünstler, der den ihm bekannten Stoff in die bekannte Kunstform gebracht hat. Es setzt den ausgebildetsten Verstand voraus, der unsrer Schüler soll aber erst gebildet werden, und selbst, wenn er auf anderen Wegen und durch andere Mittel eine gewisse Bildung erlangt hat, so ist doch der m a t h e m a t i s c h e Verstand noch nicht da. Einen allgemeinen, abstracten Verstand giebt es bekanntlich in der Wirklichkeit, d. h. im Leben des Geistes, nicht. Der Anfänger der Mathematik steht auf dem Standunkte der Anschauung, womit Jeder beginnen muß. Euclid aber beginnt mit allgemeinen Sätzen und befolgt die sogenannte synthesische oder syllogistische Methode statt der orangischen oder genetischen welche die mit einander verwandten Wahrheiten einheitlich zusammenstellt und auseinander entwickelt, anstatt daß jene logisch Begriffe  durch Begriffe begründet. Der synthetisch= syllogistischen Methode kommt es auf strengste Ableitung oder auf den Beweis an, der genetisch=organischen auf die freithätige Entdeckung der Wahrheit. Letztere ist die heuristische, und da die mathematische Wahrheit nicht äußerlich als ein fertiges Object, wie Steine oder Geschichten ec., vorgefunden, sondern durch den Geist erzeugt wird, so steht die Forderung fest, daß der Schüler den mathematischen, also auch den geometrischen Inhalt finden solle. Zu dem Privatunterricht ist solches eine unerläßliche Forderung, überall auch zu leisten, weil der Standpunkt, die Individualität e i n e s Menschen dem Lehrer das Maaß giebt für seine anregende Thätigkeit; in dem Schulunterricht muß man auf Manches verzichten und von allzu strengen Anforderungen an sich selbst nachlassen, mehr einen Mittelgang einschlagen.

Dieses ist denn auch in vorliegendem Buche, das vorzugsweise für den Schulunterricht bestimmt ist, geschehen, und eben darum, weil es nicht streng einem Grundsatze oder Prinzip folgt, sondern die Gegensätze, eben um dem Zustande der Schulen und ihres, einer M a s s e von Individuen gerecht sein sollenden Unterrichts zu genügen, zu vermitteln sucht, bin ich nicht sicher, daß ich in der unternommenen Transaction glücklich gewesen.

Daß die Sache überall anschaulich begründet werden müsste, versteht sich von selbst. Daß schon auf der Elementarstufe häufig combinatorisch zu verfahren sei, steht mir auch fest. Daß je weiter desto mehr ein streng logischer oder syllogistischer Gang einzuschlagen, bezweifle ich auch nicht. Doch ist über das Letztere noch Einiges zu sagen.

Einem Anfänger im Denken – Jeder, welcher eine Wissenschaft anfängt, ist ein Anfänger in dieser Species des Denkens – fehlt, wenn nicht die moralische, doch die intellectuelle Kraft, die logischen Feinheiten und Subtilitäten aufzufinden oder aufzufassen; der Scharfsinn entwickelt sich, wo er sich entwickelt, erst allmählich. Zuerst faßt der Lernende die Sache im Ganzen, gewissermaßen im Groben auf, und ihm erscheint ein Schluß oder eine Schlußreihe compact und streng, in welcher der Scharfsinnige noch Lücken und Mängel entdeckt. Uebersieht man dieß und verlangt von dem Anfänger die Schärfe und Genauigkeit im Denken und Beweisen ec., wie von einem ausgebildeten Mathematiker, so muthet man ihm Unmögliches zu; er soll dann Dinge beweisen, an deren Gewißheit er gar nicht zweifelt, nicht zweifeln kann; man fördert dadurch nicht seinen Wahrheitssinn und die Lust zu derselben, sondern man zerstört sie, Alles hat seine Zeit, auch das Aufsuchen der feineren und tieferen Beziehungen. In dieser Hinsicht geht es mit der mathematischen wie mit der religiösen Wahrheit. So lange in dieser und über diese nicht von selbst Zweifel erwachen, so lange ist die Widerlegung derselben nicht nur ein unnützes, sondern ein schädliches Beginnen. Darum darf und soll man sich in der Mathematik, also auch in der Raumlehre, in dem Anfangsunterricht mit Darstellungsweisen begnügen, an welchen der mathematische Verstand Manches vermissen wird.

Ob mir nun in dieser Beziehung der rechte mittlere Durchschlag gelungen oder nicht, darüber eben habe ich feine untrügliche Ueberzeugung.

Vor einem Mißbrauch dieses Buches muß ich – obgleich es im Texte auch schon geschehen – noch besonders warnen. Die Lehrsätze stehen an der Spitze, dann folgen Construktion und Beweis. Dieß könnte zu der Meinung veranlassen, als sollte der Lehrer die Sachen in dieser Reihenfolge vornehmen, d. h. geben. Dieß wäre ein unverantwortlicher Mißgriff. Nur um ermüdende Weitläufigkeit zu vermeiden, ist es, wie angegeben, gemacht worden. Der Lehrer soll nichts geben, was der Schüler finden kann. Er nennt also, wenn ein Lehrsatz zu finden ist, denselben gar nicht; er stellt nur die Bedingungen und Voraussetzungen fest und reizt in den Schülern den Trieb des E r k e n n e n w o l l e n s. Suchen sie nun selbstthätig und finden sie die angestrebte Wahrheit, so werden sie dieselbe im Worte fassen, der Satz erscheint also am Schluß der Betrachtung, und nun, wenn er gefunden, wird er als eine Behauptung aufgestellt und bewiesen, wie das Buch es macht. Dasselbe stellt also die Sätze so auf, wie sie zuletzt behandelt werden müssen. Daß dabei die Meinung nicht obwaltet, als wenn der mitgetheilte Beweis der einzige oder beste wäre, braucht kaum gefragt zu werden. An vielen Stellen werden Schüler und Lehrer andere, auch bessere finden, der einen diesen, der jenen; in der Mehrheit der Wege, welche die Schüler zu demselben Ziele einschlagen, in der Mannigfaltigkeit der Mittel, durch welche sie zu demselben Resultate gelangen, darin liegt das Anregende und Vielseitige des S c h u l u n t e r r i c h t s. Das Buch führt die Sache auf eine Weiße aus – der Lehrer darf nicht im Stich gelassen werden – die Lernenden finden und geben ihre Weisen. Auch hier gilt, wie im Leseunterricht und anderwärts, der didaktische Grundsatz: Besser einen Satz auf zehn Arten, als zehn Sätze nach einer Art.

Es wäre zu weitläufig gewesen, bei jedem Satze die Gedanken mitzuteilen, welche der Lehrer den Schülern, welche der Führung bedürfen, anzudeuten hat. Es giebt Knaben von solcher Energie des Strebens und Denkens, daß man ihnen nur das Material, das sie bearbeiten sollen, vorzulegen braucht. Ihre Selbstthätigkeit bahnt sich gleich den Weg. Die Zahl solcher Schüler ist sehr klein, oft ist unter dreißig nicht einer; des positiven Lernens ist sehr viel, ohne Zweifel zu viel, als daß man auf ein häufiges Vorkommen selbstthätigen Forschens auch nur hoffen dürfte. Die Mehrzahl der in einer Schulklasse versammelten Schüler bedarf nicht nur der Anregung, sondern der Fingerzeige, der hinleitung auf den einzuschlagenden Weg, natürlich nicht überall in demselben Grade. Vom Lehrer ist zu fordern, daß er das, was er sagt und thut, nach der jedesmaligen Beschaffenheit der Schüler bemesse. Stunden und Tage find in dieser Beziehung einander nicht gleich. Es ist nicht dasselbe, ob der mathematische Unterricht auf den Vor= oder Nachmittag, in die erste oder letzte Stunde gelegt ist, u. f. w. Jeden Falls muß der Lehrer wissen, was er zu thun hat, damit er mit vollem Rechte von den Schülern nun auch das Ihrige verlangen könne. Wo diese gar nicht selbstthätig und forschlustig sind und der Lehrer sich genöthigt sieht, die Mathematik vorzutragen, als wäre sie ein historischer Stoff, da schließe der Lehrer nur seine Bude, er schadet nur. Damit er aber einige Anleitung empfange zur rechten Vorbereitung auf die Stunden, dazu soll der Anhang dienen. Derselbe ersetzt die jedesmalige Vorbereitung nicht; er zeigt nur an Beispielen, wie man sie sich selbst in anderen Fällen zu verschaffen hat. Zugleich gewährt er eine Einsicht in verschiedene Behandlungsarten geometrischer Wahrheiten. Die angehängten 200 Aufgaben stehen Beispielsweise da. Lehrer und Schüler werden noch andere finden. Wo sie zweckmäßig zu gebrauchen sind, muß der Lehrer wissen. Die Geometrie ist nicht bloß eine Wissenschaft, sondern auch eine Kunst, wenigstens in der Schule gebe ich nichts auf das bloße Wissen. Kommt der Schüler also nicht dahin, daß er Construktionsaufgaben und andre freithätig lösen kann und mit Lust löset, so hat ihm der Unterricht in der Geometrie wenig genutzt. Ich bezweifle sogar noch dieses Wenige, ich halte es für ein Minus. Aber nicht Alle brauchen gleich weit zu kommen; denn wenn man es auch darauf anlegen wollte, man würde es doch nicht erreichen. Der löset der Aufgaben eine, ein Anderer ihrer zwei oder vier oder acht u. f. w. Wenn nur Jeder Fortschritte macht, natürlich nach Verhältnis von Unterlagen und Fleiß! Die Geometrie wird nicht, wie die praktische Rechenkunst, um der Anwendung im Leben willen gelernt, sondern um des formalen Nutzens willen, ein Wort, an dem nun auch schon Mancher, dem die Richtung des neuen Schulwesens ein Greuel ist, einen Anstoß nimmt. Sei’s drum; aber darum werden wir nicht wieder K e h r t machen in das traurige, leider noch nicht einmal überwundene Docententhum hinein. Es ist gar zu bequem, stützt sich auf die höchsten d. h. äußerlich höchsten Autoritäten – wird aber dennoch dereinst zu den Antiquitäten gehören. Wann – wissen die Götter. Daß nur die geistig freieren Menschen an der Heilsamkeit der freien Forschung und Thätigkeit niemals verzweifeln! Ein Mittel dazu bietet die Geometrie, wenn sie frei behandelt und folglich nicht benutzt wird zu einem neuen Mittel der Geistesabhängigkeit und Knechtschaft. Die Zahl derer, die diesen Unholden dienen, ist noch Legion (wie weit könnten wir sein!), klein das Häuflein der Spartaner. Möchte es sich durch Jeden, der dieses Buch gebraucht, um Einen vermehren.

Berlin, Ende 1842

 

 

 

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